Die Kristallkugel

 

 

 

Eine Legende aus Astralorn


 


 


 

 

1. Die böse Zauberin


 

 


 

Glorion kannte seine Eltern nicht. Er wurde in den ersten sie­ben Lebensjahren gemeinsam mit seinen beiden Brüdern Alge­ran und Durathor von einer bösen Zauberin aufgezogen. Allein Gerüchte be­sagten, dass diese garstige Hexe einst ihre Eltern, das Königspaar von Astralorn, grauenhaft gemeuchelt hatte, um selbst die Macht im Reich zu ergreifen. Seitdem nannte sie sich Silviana, Königin des Reiches, und galt als die schönste und mächtigste Herrscherin der bekannten Welt. Es war ihren Untertanen bei Todesstrafe verboten, von ihrer wahren Her­kunft zu sprechen. Denn einige von den Alten wussten, dass sie im Gegensatz zu ihrer scheinbar zeitlosen, ju­gendlichen, wun­derschönen Gestalt in Wirklichkeit eine uralte, ab­grundtief hässliche, garstige Hexe aus den giftigen Finstersümpfen von Schwarzborke hinter den leblosen nördlichen Dunkelwäldern war. Jahrhunderte lang hatte sie mit den Mächten des absoluten Bösen und den finstersten Dämonen verkehrt, um ihre schwarzma­gischen Kräfte so weit zu nähren, dass sie die Herr­schaft über As­tralorn grausam an sich reißen konnte.

In einer Vollmondnacht, gerade nach der Geburt von Glori­on, war sie im Schlafgemach des königlichen Paares erschie­nen, ohne dass irgendeine Wache sie hätte bemerken geschwei­ge denn auf­halten können. Sogleich hatte sie von dem über­raschten König ge­fordert, seine geliebte sanftmütige Königin zu verbannen und sie an ihrer Stelle zur Königin zu machen. Obwohl die Zauberin bereits eine wunderschöne und schier un­widerstehliche Gestalt angenommen hatte, hatte der König sie entsetzt abgewiesen und nach ihrer Festsetzung und Bestrafung für das unverschämte Eindringen und Begehren verlangt.

Auf sein Rufen hin kam jedoch keine Wache. Stattdessen wirkte die Hexe Zerke, denn das war der ältere wirkliche Name der Unhol­din, einen bösen Zauber. Sie richtete ihre Finger auf die schockierte Königen und durch schwarzmagische Kräfte wurde dieser langsam und grauenhaft vor den Augen des ge­liebten Königs die ganze Haut vom Leib abgezogen, bis sie sich blutverschmiert unter Höllenqua­len kreischend am Boden wand und schließlich nach einiger Zeit des unvorstellbaren Lei­dens endlich sterben durfte.

Willst du mich jetzt zur Frau nehmen?“, fragte das bösarti­ge Weib zynisch. „Die Wahl zwischen uns sollte dir jetzt nicht mehr schwer fallen, hehehehe! Ich kann dich auch sehr leicht zu meiner willenlosen Marionette machen, doch habe ich das nicht nötig, um zu herrschen, und will ich auch keine Energie darauf verschwen­den, dich so als meinen Sklaven und gleich­sam als mein Schoß­hündchen zu halten. Wenn du mich aber freiwillig zu deiner Gemah­lin und Königin machst, so sollst du selbst weiter leben und regieren dürfen.“

Der König wollte daraufhin nach seinem Schwert greifen, doch die Zauberin bemerkte seinen Widerwillen und hielt ihn mit einer beiläufigen weiteren Handbewegung auf. Er wirkte plötzlich wie in seiner Bewegung erstarrt und auf seinem Ge­sicht zeichneten sich unsagbare Schmerzen ab. Dann zersetzte sich sein ganzer Körper langsam, als würde er von unsichtba­ren kleinen Bestien verzehrt, bis nur noch auf dem Boden zu­ckende Überreste seines Fleisches, seiner Gedärme und seiner Knochen übrig waren.

Das hast du nun von deiner Eitelkeit!“, keifte die grausa­me Hexe und verfiel in lautes höhnisches Gelächter. „So enden wahr­haft Liebende, hahahaha!“

Daraufhin zerstäubte sie die blutigen Überreste des Königspaa­res mit einem weiteren schwarzen Zauber zu Nichts und trat am nächsten Morgen ihre prachtvolle Herrschaft als Königin Silviana von Astralorn an.


 

Offiziell hieß es nun, die Mächte eines fremden, bösen Zaube­rers hätten das Königspaar überraschend dahingerafft und die alte Freundin der Familie, die gute Zauberin Silviana, sei gera­de noch rechtzeitig erschienen, um weiteren Schaden vom Kö­nigreich abzu­wenden, die drei jungen Prinzen von Astralorn zu beschützen und das ganze Volk vor den dunklen Bedrohungen zu retten. Als neue Königin wurde sie also auch zur neuen Mut­ter der kleinen Kinder, deren Eltern sie in Wirklichkeit grausam ermordet hatte. Nur selten befasste sie sich allerdings selbst mit den drei kleinen Jungen, son­dern ihre Erziehung überließ sie ihren Handlangern, die sich ganz in ihrem Sinne um sie küm­mern sollten.

Die Zauberin hatte in ihrer Herrschsucht und ihren Allmachts­fantasien jedoch nicht beachtet, dass einige der alten Hofbedienste­ten und Hoflehrer sich durchaus noch an die Zeit vor ihrem plötzli­chen Erscheinen erinnerten. Und so kam es, dass einer der alten Recken, der wohl schon hundertjährige Weise Knorrall, den drei Kö­nigssöhnen Algeran, Durathor und Glorion im Geheimen hin und wieder dunkle Andeutungen machte. Der alte Gelehrte fürchtete selbst kaum mehr die Ra­che seiner neuen Königin, da er sein lan­ges Leben zufrieden gelebt hatte und sich ohnehin nicht mehr viele weitere Jahre versprach. Er achtete bei seinen Hinweisen aber dar­auf, seine drei Schüler nicht in Gefahr zu bringen, damit sie nicht den finsteren Zorn der grausamen Königin zu spüren bekamen wie einst die Eltern. Denn bisher gefiel sich Silviana sehr in der äu­ßerlichen Rolle der guten Schirmherrin und treu sorgenden Mutter, die bislang auch zu ihrer großen Beliebtheit bei Hofe und in der Bevölkerung beitrug.


 

Eines Abends jedoch, es war Glorions siebter Geburtstag, da be­fanden sich die drei Brüder mit Knorrall in einem vergesse­nen Win­kel der alten Schlossbibliothek und der alte Gelehrte zeigte den Jungen einige Bücher, in denen von der Geschichte und der Be­schaffenheit ihres Reiches und der umgebenden Lande die Rede war. Insbesondere ging es in einem uralten gol­denen Buch auch um die Unwesen, die in den leblosen nördli­chen Dunkelwäldern und den giftigen Finstersümpfen von Schwarzborke hausten und stän­dig ihre böse Macht auf das Königreich Astralorn und die ganze Welt auszubreiten trachte­ten. Die Grundlagen der älteren Sprachen und wunderlichen Schriftzeichen hatte Knorrall die Brüder schon gelehrt und be­sonders der jüngste Glorion hatte sie erstaunlich schnell gelernt und konnte deshalb die Aufzeichnungen und die Ge­heimlehren in dem alten Buch zumindest ansatzweise verstehen. In Verbin­dung mit anderen Hinweisen von Knorrall konnte er sich bald einen Reim auf finstere Hintergründe und das geheimnisvolle Da­sein Königin Silvianas machen. Eifrig und begeistert stu­dierte er in jeder freien Minute die sonderbaren unheimlichen Geschichten und bald bemerkte und verstand er auch die gehei­men zauberischen Lehren in dem alten goldenen Buch. Einer­seits war er voller Freude und überaus fasziniert von den alten Geheimnissen und den magi­schen Offenbarungen, andererseits erfuhr er dabei immer mehr, welche dunklen Kräfte im Reich und in der Umgebung am Werk wa­ren und was dies mit dem grausamen Schicksal seiner Eltern zu tun hatte.


 

Einige Wochen später wurden die Brüder überraschend in den Thronsaal ihrer Königin gerufen. Silviana saß auf dem Thron und sah die Prinzen lange schweigend und unverwandt an, ließ sie lan­ge erwartungsvoll vor sich stehen, umgeben von einer Hundert­schaft der königlichen schwarzen Wächtergarden in dunklen Rüs­tungen und mit langen schwarzen Lanzen. Obwohl die bleichen Ge­sichter weitgehend hinter schwarzen Helmen verborgen waren, spürte Glorion ganz deutlich, dass er und sei­ne Brüder bösartig aus den feuerroten Augen der schauerlichen Ritter angestarrt wurden.

Feindliche Kräfte haben sich wieder in unser Reich und sogar hier in unser Schloss eingeschlichen“, sprach die Zaube­rin schließ­lich mit kalter Stimme. „Sie waren für den Tod eurer Eltern verant­wortlich und dieselben bösen Mächte habe ich in der letzten Zeit er­neut verspürt. Meine Sicherheitsleute haben einen ganz nieder­trächtigen Verräter entlarvt, der offensichtlich schon früher unserem widerlichsten Feind, dem bösen Zauberer Ozdamontraz vom Schloss der goldenen Sonne, bei dem Mord an euren seligen Eltern gedient hat.“

Auf einen Wink der Königen führten zwei Wächter den al­ten Knorrall herein. Der Gelehrte war in Ketten gelegt und of­fenbar übel zugerichtet. Die Spione und die Folterknechte der Königin hatten of­fenbar das ihre getan oder vielleicht war die Zauberin dem zuvor wenig beachteten Alten nach dem Besuch in der Bibliothek und den Folgen endlich selbst auf die Schli­che gekommen. Brutal stießen die Männer den alten Lehrer vor dem Thron zu Boden.

Wer hätte das Gedacht?“, fragte die Königin böse. „Der alte Hofmeister, dem ich meine Söhne anvertraute, erweist sich als der schlimmste Feind und Verräter in meinem Schloss! Bleibt zu hoffen, dass er sie noch nicht unheilbar mit seinem Schlangengift infizieren konnte.“

Auf ein Zeichen hin brachte ein Wächtergardist ein langes Schwert aus schwarzem Stahl herbei und hielt es dem ältesten Bru­der Algeran hin.

Richte den Verräter“, befahl die Königin eiskalt.

Das kann ich nicht“, sagte der entsetzte Junge, der noch kei­nen Mann getötet hatte. „Er war unser Lehrer und Erzieher von frü­her Kindheit an. Ich kann nicht glauben, dass er ein Ver­räter ist!“

So hat sein Gift bei dir bereits gewirkt“, sagte die Königin. „Du verweigerst deiner Herrin den Gehorsam und willst mir wohl bald selbst die Macht rauben. Wenn du mir nicht gehor­chen und deine Eltern nicht rächen willst, bist du es auch nicht Wert, weiter bei Hofe oder überhaupt unter den Menschen zu leben!“

Da verwandelte sie den ältesten Bruder in einen Adler, der musste auf einem Felsengebirge hausen, und man sah ihn manch­mal am Himmel in großen Kreisen auf- und nieder­schweben.

Nun bist du am Zuge“, sagte die Königin zum zweiten Bruder Durathor, dem man das Schwert reichte.

Das kann ich nicht“, erwiderte da auch dieser. „Ich liebe ihn wie einen Großvater. Wie könnte ich jemals das Richt­schwert gegen ihn führen? Er ist kein Verräter!“

So bist auch du verseucht“, sagte die Königin, „und hast das Recht verwirkt, ein Mensch zu sein!“

Sie verwandelte den zweiten Bruder in einen Wal, der lebte im tiefen Meere, und man sah nur, wie er zuweilen einen mäch­tigen Wasserstrahl in die Höhe warf. Beide Brüder hatten seit­dem nur zwei Stunden jeden Tag ihre menschliche Gestalt.

Also zu dir“, sagte die Königin zu Glorion und lachte laut. „Du kannst wohl kaum das Schwert halten! Aber handeln musst du und richten musst du ihn. Du schneidest ihm einfach die Kehle durch.“

Darauf wurde ein schwarzer Dolch gebracht und dem letz­ten der drei Brüder gereicht. Glorion ergriff ihn wie unter ei­nem Zauber­bann und versuchte verzweifelt, der Königin nicht seine grenzenlo­se Angst und Abscheu zu zeigen.

Jetzt richte den Unhold“, befahl die Zauberin. „Sonst verwande­le ich dich gleich in ein reißendes Tier, in einen Bären oder einen Wolf!“

Glorion wusste damals nicht, ob er selbst die Entscheidung traf oder ob die böse Zauberin ihn lenkte. Er schritt auf seinen alten Lehrer zu und schnitt ihm wie von Geisterhand geführt blitzschnell die Kehle durch. Rotes Blut sprudelte aus der Wun­de am Hals und benetzte den Jungen ebenso wie den Ge­schlachteten, der jetzt leb­los zu Boden sank und in seiner Blut­lache liegen blieb. Erst viel später wurde Glorion klar, dass es Knorrall selbst war, der seine letzten zauberischen Kräfte auf­brachte, mit denen er es zuvor jah­relang vermocht hatte, sein geheimes Sinnen und Trachten vor Ent­deckung und Zugriff durch die Königin zu schützen, um seinen jun­gen Schüler zu dieser fürchterlichen Tat zu führen.

Sehr gut“, sagte Silviana. „Du gefällst mir! Mein jüngster Sohn ist der beste und lebt vorerst weiter unter Menschen! Du hast heute erstmals die grenzenlose Freude und die Macht ver­spürt, die es be­deutet, einen Menschen zu töten! Aber lass dir das Schicksal deiner schäbigen Brüder für immer eine Lehre sein, wenn dir einmal der Gedanke kommen sollte, deine Köni­gin zu hintergehen! Meine Macht wirkt und wächst ewig wei­ter, hahahahaha!“

Mit einem Wink gab sie zu verstehen, dass Glorion sich entfer­nen durfte, und die garstige Hexe begab sich selbst unter irrem Ge­lächter in ihre Privatgemächer, während Hofdiener die Leiche und das Blut des alten Weisen aus dem Thronsaal ent­fernten und die königlichen schwarzen Wächtergarden bren­nend und schlachtend alle weiteren Spuren seines Wirkens aus dem Schloss und dem Reich beseitigten. Hunderte von Men­schen, die man als Verräter beschuldigte, wurden auf dem großen Marktplatz öffentlich gefoltert und dann lebendig be­graben, auf lodernden Scheiterhaufen verbrannt oder an Richt­kreuzen zu Tode gemartert, um von jedem weiteren Widerstand gegen die Königin abzuschrecken.

In der folgenden Nacht aber gelang es Glorion, sich allein mit spärlichem Proviant und dem goldenen Buch aus dem Schloss da­vonzustehlen und zu Pferde so schnell und weit wie irgend möglich zu fliehen, bis er in das eisige Gebirge nördlich von Astralorn ge­langte. 


 


 


 

 


 

2. Die zwei Riesen


 

 


 

Glorion hatte den alten Einsiedler auf der verschneiten Frost­spitze gefunden, dem höchsten Gipfel des eisigen Gebirges, und sieben Jahre lang bei ihm gelebt und gelernt, ohne dass die bösen Mächte aus anderen Teilen der Welt ihn hier aufgespürt oder behelligt hät­ten. Doch dann kam der alte Mann zum Ster­ben und erzählte vom Schloss der goldenen Sonne. So erfuhr der Jüngling, dass auf dem Schloss der goldenen Sonne eine verwunschene Königstochter säße, die auf Erlösung harrte; es müsste aber jeder sein Leben dar­an wagen, schon dreiund­zwanzig Jünglinge wären eines jämmerli­chen Todes gestorben und nur noch einer übrig, dann dürfe keiner mehr kommen.

Kaum hatte der Eremit mit seinem wundersamen Bericht geen­det, da setzte er sich starr in den Schneidersitz in der klir­renden Kälte von Schnee und Eis, in der er wohl Jahrhunderte allein ge­bebt hatte in einsamer Meditation. Er wurde eins mit der verschnei­ten Frostspitze und dem ganzen eisigen Gebirge und Glorion er­kannte, dass der Einsiedler friedlich gestorben war. Und da sein Herz nunmehr ohne Furcht war, so fasste er den Entschluss, das Schloss von der goldenen Sonne aufzusu­chen, und stieg wieder von der Frostspitze hinunter.

Am Fuß des eisigen Berges erblickte Glorion plötzlich ein Schwert, dass in einem grauen Felsen steckte. Der Jüngling erin­nerte sich an frühere Erzählungen des Einsiedlers und ge­wahrte, dass es dessen Schwert sein musste, das er vor langer Zeit, als er sich aus der Welt der Menschen in die eisigen Hö­hen begeben hat­te, dort in den Stein gesteckt und zurückgelas­sen hatte. Es war aber ein Zauberschwert mit dem Namen Dra­chenkralle, denn der Eremit war früher einmal, in längst ver­gessenen Zeiten, ein Zauber­ritter von Astralorn gewesen. Nur ein Thronerbe des alten Königs­geschlechts von Astralorn, der in der Zauberei bewandert und der reinen Herzens war, konnte das Schwert wieder aus dem Felsen ziehen. Glorion umfasste den wundervoll mit Diamanten verzierten Griff des Schwertes und zog daran. Sogleich glitt die stählerne Klin­ge aus dem Stein und vibrierte in der Hand des Jünglings wie ein magi­scher Teil seiner selbst. Er hob Drachenkralle hoch ins Son­nenlicht und wusste, dass er mit dem Zauberschwert bald ein unbe­zwingbarer Kämpfer werden konnte.


 

Lange Zeit wanderte Glorion durch Gebirge und Ebenen, im­mer darauf bedacht, seinem Heimatland Astralorn und somit dem Machtbereich der bösen Zauberin nicht zu nahe zu kom­men. Doch er konnte bei den vereinzelten Bauern und Viehtrei­bern, auf die er bei seiner Wanderung traf, und in den kleinen ärmlichen Dörfern, durch die er zog, nichts weiteres über das Schloss der goldenen Sonne oder seinen Standort in Erfahrung bringen. Auch in dem ur­alten goldenen Buch, das er immer noch bei sich trug und umfas­send studiert hatte, entdeckte er keine deutlichen Hinweise auf das mystische Schloss. Er war schon monatelang herumgezogen und hatte es nicht finden kö­nen, da geriet er in einen großen Wald und wusste nicht, wo der Ausgang war.

Nach einigen Tagen der Wanderung im großen Wald er­blickte Glorion auf einmal in der Ferne zwei Riesen und die winkten ihm zu. Der Junge folgte den Riesen und sie gelangten bald auf eine weite Lichtung zu einer gewaltigen Ansiedlung aus großen Holz- und Steingebäuden. Glorion war erschöpft, denn er hatte rennen müssen und dennoch kaum mit den gewal­tigen Schritten der bei­den Riesen mithalten können. Jetzt wuss­te er, dass die Riesen hier im tiefsten Wald verborgen hausten, und sie wandten sich endlich zu ihm um und sprachen ihn mit tiefen Stimmen an.

Sei unser Gast, Fremdling“, sprach der eine. „Wir haben genü­gend gute Unterkünfte und reichlich Vorräte.“

Wir haben gerne die kleinen Menschen und andere Wesen zu Gast“, sagte der andere. „Es soll dir hier bei uns an nichts fehlen.“

Und vielleicht kannst du uns mit deinen Fähigkeiten auch zu et­was nütze sein“, bemerkte der erste, „doch dazu später mehr. Jetzt genieße Speis und Trank und gute Unterhaltung!“

Bald kamen noch zwei Dutzend weitere Riesen aus den umlie­genden Waldgebieten und dazu einige andere Wildwesen, welche Glorion noch nie gesehen hatte und die offenbar eine faszinierende Mischung der menschlichen Rasse mit anderen Tierarten darstell­ten: Fuchsmenschen, Hirschmenschen, selbst einige gefährlich an­zusehende Wolfs- und Bärenmenschen. Sie alle konnten mehr oder weniger gut die menschliche Sprache sprechen und sich unterein­ander und mit Glorion verständigen. Und sie alle nahmen freudig an den Festlichkeiten der Riesen teil, aßen, tranken, sangen und tanz­ten im Kreise um die Lager­feuer.

Diese Zusammenkunft“, erklärte dem Jüngling später ei­ner der beiden Riesen, der sich Gurdulf nannte, „dient noch ei­nem anderen besonderen Zweck. Und zwar wollen wir unseren neuen Anführer bestimmen. Nach dem Tode unseres mächtigen Vaters streiten ich und mein Zwillingsbruder Durgulf um die Nachfolge. Komm einmal mit, Menschlein.“

Gurdulf und Durgulf führten Glorion in einen etwas abgele­genen Teil der großen Lichtung zu einem riesenhaften braunen Grabhügel. Dort aufgebahrt lag der Leichnam ihres Vaters, des früheren Rie­senführers Ahrnulf.

Sieben Tage ist er nun schon tot“, erklärte Gurdulf. „Und nach Ablauf des siebenten Tages werden sein Leib und seine Seele mit der Erde und dem Walde eins werden.“

Aber nur, wenn wir bis dahin eine gerechte Regelung für seine Nachfolge finden“, fügte Durgulf hinzu, „nur dann kann seine Seele auch Frieden finden und unsere Gemeinschaft wei­terhin friedlich und glücklich bestehen.“

Deshalb streiten wir seit sieben Tagen um seinen Hut“, sagte Gurdulf und deutete auf einen alten grünen Hut, der ne­ben dem to­ten Riesen auf einem Holzstab hing.

Wir streiten darum, wem er zugehören soll“, sagte Dur­gulf, „und da wir beide gleich stark sind, so kann keiner den anderen überwältigen; die kleinen Menschen aber sind klüger als wir und in deinem Erscheinen fern der Heimat der Men­schen sehen wir ein besonderes Zeichen, daher wollen wir dir die Entscheidung überlas­sen.“

Wie könnt ihr euch um einen alten Hut streiten?“, fragte da Glo­rion. „Warum begrabt ihr ihn nicht einfach mit eurem Vater und führt dann gemeinsam eure Gemeinschaft an?“

Du weißt ja nicht, was er für Eigenschaften hat“, sagte Gurdulf. „Es ist ein Wünschhut.“

Wer den aufsetzt“, erklärte Durgulf, „der kann sich hinwün­schen, wohin er will, und im Augenblick ist er dort. Des­halb begrün­det er die Macht des Anführers.“

Gebt mir den Hut“, sagte der Jüngling, „ich will ein Stück Wegs gehen, und wenn ich euch dann rufe, so lauft um die We­te, und wer als erster bei mir ist, dem soll er gehören.“

Glorion setzte den Hut auf, der sich gleich auf wundersame Weise der Form und Größe seines Kopfes anpasste, als sei er ein­zig für ihn geschneidert, und er ging fort, dachte aber an die Kö­nigstochter, vergaß die Riesen und ging immer weiter. Ein­mal seufzte er aus Herzensgrund und rief: „Ach, wäre ich doch auf dem Schloss der goldenen Sonne!“ Und kaum waren die Worte über sei­ne Lippen, so stand er auf einem hohen Berg vor dem Tor des Schlosses.


 


 

 


 


 

3. Im Schloss


 

 


 

Glorion stellte fest, dass das Tor offen war, betrat das Schloss der goldenen Sonne und eilte auf der Suche nach der Königs­tochter durch alle Zimmer, denn innerhalb des Schlosses schien der Wünschhut nicht mehr zu wirken, sodass er die Gesuchte nicht mit seiner Hilfe unmittelbar erreichen konnte. Irgendwo fand er eine kleine Wachslampe und entzündete sie, um damit auch die tiefsten und finstersten Bereiche des Schlosses zu er­kunden. Die meisten Räume waren stockdunkel und völlig leer, in einigen waren zerfalle­ne, von dichtem Staub bedeckte und von großen Spinnweben über­zogene alte Möbel und verdüster­te Gemälde an den Wänden zu er­blicken, aber in anderen traf er Unwesen an.

Ich bin der Wicht, ich bin der Wicht!“, krächzte ein ab­grundtief hässlicher Zwerg, der in einem dunklen, stinkenden Kellerraum in Ketten lag. „Befreie mich, befreie mich und es soll dein Schaden nicht sein!“

Glorion ekelte es sehr vor dem garstigen Zwerg und seinem beißenden Gestank. Nur Hässlichkeit, Finsternis und abgrund­tiefe Bosheit gingen von dem kleinen Widerling aus.

Was kannst du mir bieten?“, fragte der erstaunte Jüngling den­noch. „Was hat es mit deinem Dasein auf sich?“

Der böse Zauberer Ozdamontraz hat mich eingekerkert!“, krächzte der Zwerg mit bösem Blick zwischen seinen spitzen schwarzen Zähnen hervor. „In Wirklichkeit bin ich der Herrgott die­ser Welt. Wenn du mich wieder freisetzt, töten wir den Zau­berer und ich mache dich zu meinem Hohepriester. Dann herr­sche ich wieder als strahlender Gottvater im Himmel und du darfst auf Erden die Regentschaft für mich führen! Ich gebe dir das ewige Leben!“

Glorion verspürte, dass der Unhold sich seiner mit schwar­zer Magie bemächtigen wollte, und zögerte nicht einen Augen­blick. Er zog sein Schwert Drachenkralle und schnellte auf den grausigen Wicht zu, um ihm mit einem Streich den ekelhaften Kopf abzuschla­gen. Abgetrennter Kopf und Körper lösten sich daraufhin in grauen­hafter Weise auf, bis unzählige ekelhafte kleine schwarze Würmer und weiße Maden daraus hervorgin­gen und sich durch Löcher in den dunklen Ecken des Kerkers in die Erde verkrochen. Kaum war dieser selbsternannte wider­liche Gott verendet, verzog sich auch der bestialische Gestank.

Glorion verschwendete keinen Gedanken mehr an den ge­schlachteten Wicht und eilte weiter durch die Zimmer des Schlos­ses. In dunkle Gänge und Räume leuchtete er mit seiner kleinen Wachslampe hinein. Bald stieß er wieder auf ein bösar­tiges Unwe­sen.

Ich bin der Hüter der Wahrheit!“, rief ein spindeldürrer bleicher Krüppel, der mit gebeugtem Rücken und einem gräss­lichen plum­pen Buckel auf einen Krückstock gestützt in einem düsteren Raum im Kreis herumlief. Mit ihm im Kreis liefen wi­derliche kleine schwar­ze und weiße Kriechtiere, die alle mit ih­rem Hüter und miteinander durch eine rostige Eisenkette ver­bunden waren, die an ihren Hälsen befestigt war. Die kleinen blinden Unwesen, ähnlich krankhaft ent­stellten Maulwürfen oder Ratten, erinnerten Glorion unliebsam an die Würmer und Maden, die aus dem Kadaver des toten Zwerges gekrochen wa­ren. Auch hier strömte einem wieder der bestialische Gestank nach Bosheit und Verwesung entgegen.

Was bedeutet deine seltsame Erscheinung?“, fragte der Jüng­ling. „Kannst du mir etwa auf meiner Suche nach der Kö­nigstochter helfen?“

Der böse Zauberer Ozdamontraz hält mich hier schändlich ge­fangen!“, klagte der Krüppel, der Glorion nicht sehen konn­te, son­dern, wie der Jüngling jetzt erkannte, mit leeren schwar­zen Augen­höhlen im Kreise herumirrte und mit dem Krück­stock nach dem Fremden tastete. Der widerliche Hüter musste ihn zuvor gehört oder vielleicht die Wärme der Lampe verspürt haben.

Ich will dir einen meiner Lieblinge braten“, fuhr der dürre Greis fort. „Gib mir nur das Feuer deiner Lampe. Wenn du ihn dann ver­speist, wirst auch du an meiner ewigen Wahrheit teil­haben. Wenn du mich dann befreist, erhalte ich mein Augen­licht zurück und wir töten den bösen Zauberer. Dann herrschen wir ewig über die ganze Welt und meine Schäflein breiten sich überall aus!“

Daraufhin nahm der Krüppel eins seiner entarteten Kriech­tiere auf und biss ihm in den Hals, sodass dünnes giftiges Blut heraus­spritzte. Dann bot er Glorion das tote Untier dar.

Doch der junge Mann zog sogleich sein Schwert Drachen­kralle und machte dem selbsternannten Wahrheitshüter mit ei­nem schnel­len Stich in die Brust den Garaus. Die schwarzen und weißen Bies­ter machten sich über ihren Hirten her und fra­ßen ihn mit Haut und Haaren auf. Dann verkrochen sie sich durch enge Löcher im Boden in die dunkle Erde.

Glorion ging weiter durch die Zimmer, bis er in dem letzten die Königstochter fand. Aber wie erschrak er, als er sie anblick­te: Sie hatte ein aschgraues Gesicht voll Runzeln, trübe Augen und rote Haare.

Seid ihr die Königstochter, deren Schönheit alle Welt rühmt?“, rief er überrascht aus.

Ach,“ erwiderte sie, „das ist meine Gestalt nicht, die Au­gen der Menschen können mich nur in dieser Hässlichkeit er­blicken, aber damit du weißt wie ich aussehe, so schau in den Spiegel, der lässt sich nicht irre machen, der zeigt dir mein Bild, wie es in Wahrheit ist.“

Sie gab ihm den Spiegel in die Hand und er sah darin das Ab­bild der schönsten Jungfrau, die auf der Welt war, und sah wie ihr vor Traurigkeit die Tränen über die Wangen rollten.

Da sprach er: „Wie kannst du erlöst werden? Ich scheue keine Gefahr.“

Sie sprach: „Wer die kristallne Kugel erlangt und hält sie dem Zauberer Ozdamontraz vor, der bricht damit seine Macht und ich kehre in meine wahre Gestalt zurück. Ach,“ setzte sie hinzu, „schon so mancher ist darum in seinen Tod gegangen und du junges Blut, du jammerst mich, wenn du dich in die großen Gefährlichkeiten be­gibst.“

Mich kann nichts abhalten“, sprach Glorion, „aber sage mir nur, was ich tun muss.“

Du sollst alles wissen,“ sprach die Königstochter. „Wenn du den Berg, auf dem das Schloss steht, hinabgehst, so wird unten an einer Quelle ein wilder Auerochs stehen, mit dem musst du kämp­fen. Und wenn es dir glückt, ihn zu töten, so wird sich aus ihm ein feuriger Vogel erheben, der trägt in sei­nem Leib ein glühendes Ei und in dem Ei steckt als Dotter die Kristallkugel. Er lässt aber das Ei nicht fallen, bis er dazu ge­drängt wird, fällt es aber auf die Erde, so zündet es und ver­brennt alles in seiner Nähe und das Ei selbst zer­schmilzt und mit ihm die kristallne Kugel und all deine Mühe ist ver­geblich gewesen.“

Daraufhin verließ Glorion das Schloss und stieg den Berg hinab zu der Quelle.


 


 


 

 


 

4. Der Kampf


 

 


 

Da kam der feuerrote Auerochse auf ihn zugestürmt, der aus seinen gewaltigen Nüstern schnaubte und ihn wild anbrüllte. Glorion zog sein Zauberschwert Drachenkralle, erhob es neben seinen Kopf und stellte sich dem Ungeheuer entgegen. Der Auerochse war drei­mal so groß wie ein ausgewachsener Stier und bei jeder Bewegung wanden sich die stahlharten Muskeln unter der roten Lederhaut. Er hatte lange, gewundene, tödliche Stoßhörner auf dem breiten Schä­del und seine Augen glühten wie Kohlen aus den Untiefen der Flammenhölle. Jeder andere Mensch wäre schon durch den bösen Blick und den giftigen Dampfatem dieses Unwesens sofort getötet worden. Doch Glorion hatte viele Jahre lang mit dem Einsiedler in tiefer Versenkung meditiert und sich geistig und körperlich auf einen solchen Kampf vorbereitet. Nun erweckte er alle seine magi­schen Kräfte, um zu kämpfen und die Königstochter von dem bösen Zau­ber zu erlösen.

Der Auerochse donnerte mit unvorstellbarer Geschwindig­keit und dem Gewicht von Bergmassiven auf den Jüngling zu. Aber Glo­rion stand still und unbeweglich, wartete bis zum letz­ten Augenblick, bevor er von den stampfenden metallenen Hu­fen zu Nichts zer­malmt worden wäre. Dann sprang er hoch und wirbelte herum, hol­te mit dem Schwert Drachenkralle aus und trieb es wie von Geister­hand geführt blitzschnell durch den massiven Leib genau in das schwarze Herz des Auerochsen. Im Sprung zog er seine Klinge wieder aus dem Ungeheuer heraus, landete und rollte sich auf dem Boden ab. Wild stampfte das Unwesen noch hundert Meter weiter, geriet dann aus der Bahn, strauchelte und sank mit einem gewalti­gen Krachen und Don­nern und mit einem abgrundtief bösen und schmerzerfüllten lauten Grunzen nieder, sodass die Erde meilen­weit erzitterte.

Unter den letzten bestialischen Todesschreien des Auer­ochsen riss seine massige rote Brust auf. Augenblicklich erhob sich aus sei­nem toten Leib der Feuervogel, der ein großes wei­ßes Ei in den Krallen hielt, und wollte fortfliegen. Aber da er­schien plötzlich ein großer Adler und Glorion erkannte, dass es sein verwandelter Bru­der Algeran war, der zwischen den Wol­ken daher zog. Der gewalti­ge Adler stürzte auf den feurigen Vogel herab, jagte ihn nach dem Meer hin und stieß ihn mit sei­nem mächtigen Schnabel an, sodass er in der Bedrängnis das Ei fallen ließ. Es fiel aber nicht in das Meer, sondern auf eine Fi­scherhütte, die am Ufer stand, und die fing gleich an zu rau­chen und wollte in Flammen aufgehen. Da er­hoben sich im Meer haushohe Wellen, strömten über die Hütte und bezwan­gen das Feuer. Der andere verwandelte Bruder Durathor, der mächtige Wal, war herangeschwommen und hatte das Wasser in die Höhe getrieben. Als der Brand gelöscht war, suchte Glo­rion nach dem Ei und fand es glücklicherweise: Es war noch nicht ge­schmolzen, aber die Schale war von der plötzlichen Abkühlung durch das kalte Wasser zerbröckelt und er konnte die Kristallkugel unversehrt herausnehmen. Sie glitzerte wun­dervoll in Silber und Gold und hatte eine glänzende glatte Oberfläche von wundersamer und gänzlich unbekannter Be­schaffenheit.


 

 


 


 


 

5. Die Kristallkugel


 


 

 

Glorion stieg mit der Kristallkugel wieder den Berg hinauf zum Schloss der goldenen Sonne. Diesmal fand er sogleich den Weg zum großen alten Thronsaal des Schlosses. Auf dem Thron saß der böse Zauberer Ozdamontraz, von dem Glorion schon man­ches ge­hört hatte. Er hatte langes graues Haar und einen langen grauen Bart, war in einen langen königsblauen Umhang gehüllt und trug einen spitzen Hut der gleichen Farbe. In der rechten Hand hielt er einen wunderbar geschnitzten und verzierten Zauberstab aus Ebenholz, auf dem fremdartige Runen in Gold und Silber leuchte­ten. In der linken Hand hielt er eine alte Schriftrolle, welche seine mächtigsten Zauber enthalten moch­te, mit denen er seit undenkli­cher Zeit über das Schloss der gol­denen Sonne und sein gesamtes Reich herrschte.

Wer bist du?“, fragte der Zauberer mit tiefer Stimme, die mäch­tig und bedrohlich durch den ganzen Saal hallte. „Hier ist noch kein dahergelaufener Jüngling eingedrungen und hat mein Schloss le­bendig wieder verlassen. Dreiundzwanzig sind bisher gekommen und alle gingen in einen schändlichen Tod. Seit Ewigkeiten war kei­ner mehr hier und du bist der letzte, der kommen darf. Wenn auch du versagt hast, wird die Königstochter für immer verwünscht und verflucht bleiben!“

Ich bin Glorion“, antwortete der Jüngling, „und ich bringe die mystische Kristallkugel!“

Als er durch den weiten Saal zum Zauberer ging und die­sem die Kristallkugel vorhielt, da veränderte sich dessen ural­tes, zorniges Antlitz. Ozdamontraz wurde sanft und sprach zu dem Ankömmling mit nachdenklicher, freundlicher Stimme: „Meine Macht ist zerstört und du bist von nun an der König vom Schloss der goldenen Son­ne. Auch deinen Brüdern kannst du die menschliche Gestalt damit zurückgeben. Ich diene dir fortan in alle Ewigkeit als dein königli­cher Erzzauberer.“

Da eilte der Jüngling zu der Königstochter und als er in ihr Zim­mer trat, so stand sie da im vollen Glanz ihrer Schönheit. Die jun­gen Liebenden umarmten sich und küssten sich lange, heiß und in­nig. Bald erschienen auch die beiden Brüder in ihrer menschlichen Gestalt im Schloss und die vormals vertriebene und in dunklen Bergwerken in Astralorn versklavte Hofgesell­schaft kehrte zurück. In einer prächtigen Hochzeit wechselten Glorion und Amalthra, so der Name der wunderschönen Prin­zessin, bald darauf voll Freude ihre Ringe miteinander.

Die Zauberin Silviana aber, die eigentlich die böse Hexe Zerke war, wurde aus Astralorn zum Schloss der goldenen Son­ne ge­schafft und musste dort auf der Hochzeit drei Tage lang in glühend heißen Eisenpantoffeln tanzen und dabei unsagbare Schmerzen er­leiden, ohne dass sie hinfallen und sterben durfte, denn der Zaube­rer Oz­damontraz hatte sie verflucht. Außerdem wurden ihr von ei­nem Fol­terknecht überall am Körper tiefe Schnittwunden zu­gefügt, aus de­nen sie bluten musste, und man versetzte ihr die ganze Zeit über harte Knüppelschläge, sodass ihr alle Knochen vielfach gebro­chen wurden. Bei ihrem grotes­ken und grausigen Tanz hallten ihre grel­len Schmerzensschreie durchs ganze Land und wurden eins mit den freudigen Gesän­gen und dem Musizieren der Feiernden, die man von ihr befreit hatte. Erst nach drei Tagen durfte sie in ihrem schmerzerfüllten Tanz innehalten und nun wurde sie von den Solda­ten an Armen und Beinen mit großen Eisennägeln an ein Holzkreuz geschla­gen, ihr wurden die Nase und die Ohren abgeschnitten, so­dann die Hände und die Füße abgehackt und schließlich eines ihrer Augen grausam ausgebrannt. Das zweite Auge aber ließ man ihr vorerst, denn damit musste sie ihre Martern weiter mitanse­hen. Bald wurde ihr die ganze Haut vom Leib abge­zogen, doch aufgrund des Zaubers durfte sie noch immer nicht versterben, sondern muss­te die ganzen Qualen und den ganzen Schmerz auch noch tau­sendfach verstärkt erleiden. Erst danach wurde sie vor dem jubeln­den Volk, das sie die ganze Zeit bespuckte und mit Abfällen bewarf, auf einem lodernden Scheiterhaufen ver­brannt. Ihre böse Seele aber, die nicht sterben konnte, kehrte als Geistwesen in die giftigen Finstersümpfe von Schwarzbor­ke hinter den leblosen nördlichen Dunkelwäldern zurück. Dort musste sie, al­ler schwarzmagischen Kräfte beraubt, unter den anderen uralten Unwesen ewig weiter lei­den und für immer als gepeinigter Geist umherirren. Ihre königli­chen schwarzen Wächtergarden, die in Wirklichkeit aus Dämonen bestanden hatten, wurden mit ihr in die Finstersümpfe verbannt und kein böses Unwesen konnte jemals mehr von dort in die Welt der Menschen zurückkommen und diese heimsuchen.

Glorion und Amalthra aber waren nun König und Königin vom Schloss der goldenen Sonne und auch von Astralorn und die ge­treuen Brüder Algeran und Durathor wurden die ersten königlichen Minister. Sieben Jahre später beherrschten Glorion und Amalthra die ganze Welt und hatten mit ihren Erben eine Dynastie begründet, die über tausend Jahre prachtvoll bestehen sollte. Und sie brachten mit der Macht der Kristallkugel allen Menschen Freiheit, Frieden, Glück und grenzenlose Liebe.


 

Nachdem Glorion tausende der uralten Bücher aus der Biblio­thek im Schloss der goldenen Sonne begeistert gelesen hatte, stieß er eines Tages in einem alten grauen Band auf ein Mär­chen in einer uralten Sprache, die er nur ansatzweise beherrsch­te. Etwas darin sprach ihn auf zauberische Weise an, deshalb brachte er es hinauf in seine Privatgemächer und übersetzte es mithilfe einiger Wörter­bücher. Und so las der König schließlich seiner Königin vor:


 

 


 

Die Kristallkugel


 


 

 

Es war einmal eine Zauberin, die hatte drei Söhne, die sich brü­derlich liebten; aber die Alte traute ihnen nicht und dachte, sie wollten ihr ihre Macht rauben. Da ver­wandelte sie den ältesten in einen Adler, der musste auf einem Felsengebir­ge hau­sen, und man sah ihn manchmal am Himmel in großen Kreisen auf- und niederschwe­ben. Den zweiten verwandelte sie in einen Walfisch, der leb­te im tiefen Meer, und man sah nur, wie er zuwei­len einen mächti­gen Wasserstrahl in die Höhe warf. Bei­de hat­ten nur zwei Stunden jeden Tag ihre menschliche Gestalt. Der dritte Sohn, da er fürchte­te, sie möchte ihn auch in ein reißendes Tier verwan­deln, in einen Bä­ren oder einen Wolf, so ging er heimlich fort.

Er hatte aber ge­hört, dass auf dem Schloss der gol­denen Sonne eine ver­wünschte Königstochter säße, die auf Er­lösung harrte; es müsste aber jeder sein Le­ben daran wagen, schon dreiundzwanzig Jüng­linge wä­ren eines jämmerli­chen Todes gestorben und nur noch einer übrig, dann dürf­te kei­ner mehr kommen. Und da sein Herz ohne Furcht war, so fasste er den Ent­schluss, das Schloss von der goldenen Son­ne aufzusu­chen. Er war schon lange Zeit her­umgezogen und hatte es nicht finden können, da geriet er in einen großen Wald und wusste nicht, wo der Ausgang war.

Auf einmal er­blickte er in der Ferne zwei Rie­sen, die winkten ihm mit der Hand, und als er zu ihnen kam, sprachen sie: „Wir strei­ten um einen Hut, wem er zugehö­ren soll, und da wir beide gleich stark sind, so kann kei­ner den andern über­wältigen; die kleinen Menschen sind klüger als wir, da­her wollen wir dir die Entscheidung überlas­sen.

Wie könnt ihr euch um einen alten Hut strei­ten?“ sagte der Jüng­ling.

Du weißt nicht, was er für Eigenschaften hat, es ist ein Wünschhut, wer den auf­setzt, der kann sich hinwünschen, wo­hin er will, und im Augen­blick ist er dort.“

Gebt mir den Hut“, sagte der Jüng­ling, „ich will ein Stück Wegs ge­hen, und wenn ich euch dann rufe, so lauft um die Wette, und wer als erster bei mir ist, dem soll er gehören.“ Er setzte den Hut auf und ging fort, dachte aber an die Königstoch­ter, ver­gaß die Riesen und ging immer weiter. Einmal seufzte er aus Herzens­grund und rief: „Ach, wäre ich doch auf dem Schloss der golde­nen Son­ne!“ Und kaum waren die Worte über seine Lippen, so stand er auf ei­nem hohen Berg vor dem Tor des Schlosses.

Er trat hinein und ging durch alle Zimmer, bis er in dem letzten die Kö­nigstochter fand. Aber wie erschrak er, als er sie anblickte: Sie hatte ein aschgrau­es Gesicht voll Runzeln, trübe Augen und rote Haare. „Seid ihr die Kö­nigstochter, deren Schönheit alle Welt rühmt?“ rief er aus.

Ach,“ erwiderte sie, „das ist meine Gestalt nicht, die Augen der Men­schen können mich nur in dieser Hässlichkeit erblicken, aber damit du weißt, wie ich aus­sehe, so schau in den Spiegel, der lässt sich nicht irre machen, der zeigt dir mein Bild, wie es in Wahrheit ist.“ Sie gab ihm den Spiegel in die Hand, und er sah darin das Abbild der schönsten Jungfrau, die auf der Welt war, und sah wie ihr vor Traurig­keit die Tränen über die Wangen rollten.

Da sprach er: „Wie kannst du erlöst werden? Ich scheue kei­ne Ge­fahr.“

Sie sprach: „Wer die kristallne Kugel erlangt und hält sie dem Zau­berer vor, der bricht damit seine Macht, und ich kehre in meine wahre Gestalt zurück. Ach,“ setzte sie hinzu, „schon so mancher ist darum in seinen Tod gegangen, und du junges Blut, du jam­merst mich, wenn du dich in die großen Gefährlichkeiten be­gibst.“

Mich kann nichts abhalten“, sprach er, „aber sage mir, was ich tun muss.“

Du sollst alles wissen,“ sprach die Kö­nigstochter, „wenn du den Berg, auf dem das Schloss steht, hinabge­hst, so wird unten an einer Quelle ein wilder Auer­ochs stehen, mit dem musst du kämpfen. Und wenn es dir glückt, ihn zu töten, so wird sich aus ihm ein feu­riger Vogel erheben, der trägt in seinem Leib ein glühen­des Ei, und in dem Ei steckt als Dot­ter die Kristallkugel. Er lässt aber das Ei nicht fallen, bis er dazu gedrängt wird, fällt es aber auf die Erde, so zündet es und verbrennt alles in sei­ner Nähe, und das Ei selbst zer­schmilzt und mit ihm die kristallne Kugel, und all deine Mühe ist ver­geblich gewesen.“

Der Jüngling stieg hinab zu der Quelle, wo der Auerochse schnaub­te und ihn an­brüllte. Nach langem Kampf stieß er ihm sein Schwert in den Leib und er sank nie­der. Augenblicklich er­hob sich aus ihm der Feu­ervogel und wollte fortfliegen, aber der Adler, der Bruder des Jünglings, der zwischen den Wol­ken daher zog, stürzte auf ihn herab, jagte ihn nach dem Meer hin und stieß ihn mit seinem Schnabel an, sodass er in der Be­drängnis das Ei fallen ließ. Es fiel aber nicht in das Meer, son­dern auf eine Fischerhütte, die am Ufer stand, und die fing gleich an zu rau­chen und wollte in Flammen aufgehen. Da er­hoben sich im Meer haus­hohe Wellen, strömten über die Hütte und bezwangen das Feuer. Der andere Bruder, der Walfisch, war herange­schwommen und hatte das Wasser in die Höhe ge­trieben. Als der Brand gelöscht war, suchte der Jüngling nach dem Ei und fand es glückli­cherweise; es war noch nicht geschmol­zen, aber die Schale war von der plötzlichen Ab­kühlung durch das kalte Was­ser zerbröckelt und er konnte die Kristallkugel unver­sehrt herausnehmen.

Als der Jüngling zu dem Zauberer ging und sie ihm vor­hielt, so sag­te die­ser: „Mei­ne Macht ist zerstört und du bist von nun an der König vom Schloss der golde­nen Sonne. Auch dei­nen Brüdern kannst du die menschli­che Gestalt damit zurückge­ben.“ Da eilte der Jüngling zu der Königstochter und als er in ihr Zimmer trat, so stand sie da im vollen Glanz ihrer Schön­heit und beide wechselten voll Freude ihre Ringe miteinander.


 


 


 

 

Ende


 


 

 

 


 

 

 

 

 


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